London: Der Earl räumt auf

Leicester Square 2

London macht sich fein für das Olympiajahr 2012. Auch der berühmte Leicester Square bekommt für knapp 18 Millionen Euro eine Kompletterneuerung spendiert. Die Gegend rund um die Premierenkinos und das neue luxuriöse W Hotel soll vom Schmuddel befreit in neuem Glanz erstrahlen.

London – In der Nacht vor der letzten “Harry Potter”-Premiere konnte man glauben, die Zauberschule Hogwarts liege direkt am Leicester Square, so viele kleine Zauberer mit schwarzen Umhängen und Nickelbrille spukten rund um den berühmten Platz herum. Bis zum Piccadilly Circus zogen sich die Schlangen der Fans, die zumindest aus der Ferne an der Weltpremiere des letzten Kinofilms aus der Harry Potter-Reihe teilhaben wollten. Da man erwartete, dass die Straßen rund um das Epizentrum der britischen Filmindustrie den Andrang nicht verkraften würden, hatte man das Schaulaufen der prominenten Premierengäste auf dem Roten Teppich gleich an den Trafalgar Square verlegt.

Der Spuk ist wieder vorbei. Nun schieben sich wie an jedem Tag wieder Tausende von Touristen an den Film- und Musical-Theatern entlang, studieren das Angebot der Theater, kaufen Tickets im tkts-Pavillon, treffen sich auf einen Drink in einem der vielen Pubs und Clubs wie dem “Sound” oder dem “Equinox” oder lassen sich von den zahlreichen Cartoon-Zeichnern porträtieren. Der kleine Park in der Mitte des Platzes, in dem die Denkmäler von Shakespeare, Newton und Chaplin auf die Flaneure herabschauen, ist derzeit allerdings hinter einem Bauzaun verborgen.

Der Leicester Square macht sich fein für die Olympischen Spiele, die ab Ende Juli 2012 in London stattfinden werden. Für knapp 18 Millionen Euro soll die im Laufe der Jahre etwas heruntergekommene Rennmeile für Touristen, Theatergänger und Cineasten aufgewertet werden. Und was im Königreich sonst jahrelang von einer trägen Bürokratie ausgebremst wird, hat nun angesichts der Olympischen Spiele auf einmal oberste Priorität, nicht zuletzt wegen der Prominenz dieses an sich eher unscheinbaren Platzes hinter dem Trafalgar Square.

Junkies und unterirdische Fettklumpen

“Wahrscheinlich werden 95 Prozent der Gäste, die wegen der Olympischen Spiele nach London kommen, über den Leicester Square laufen”, so Rosemarie MacQueen vom Westminster Council. “Der Platz ist ähnlich bedeutend wie die Ramblas in Barcelona oder die 42nd Street in New York. Wenn Sie zehn Postkarten mit Londoner Motiven kaufen, werden neun davon Plätze in Westminster wie den Leicester Square zeigen.”

Eine Aufwertung der Gegend zwischen Trafalgar Square, Piccadilly Circus, China Town und Covent Garden ist auch bitter nötig. Bis 1993 wurde der Platz noch von den Einheimischen und den Touristen gemieden. Erst dann ging die Stadtverwaltung entschieden gegen die Junkies vor, die den kleinen Park okkupiert hatten, und ihr achtlos weggeworfenes Drogenbesteck eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Die Unterhaltungsindustrie ließ sich davon nie beeindrucken.

Liecester Square_Bauzaun

Doch ein Vorfall aus dem vergangenen Sommer ist symptomatisch für den Zustand der Nachbarschaft: Seinerzeit musste die Kanalisation unterhalb des Squares von einem gigantischen Fettklumpen befreit werden, der sich über Jahrzehnte aus Kochabfällen und Haaren gebildet hatte und die Rohre verstopfte. Man wusste auf den ersten Blick nicht, ob dies ein Fall für die Ghostbusters oder die Thames Water ist. Der Klumpen war so groß, dass er rund neun Doppeldeckerbusse gefüllt hätte.

Seit fast 450 Jahren erlebt der Platz seine Höhen und Tiefen. Begonnen hatte alles mit der Residenz des Earl of Leicester, dem Leicester House, das hier in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaut wurde. Die benachbarten Leicester Fields waren lange Zeit der bevorzugte Treffpunkt für hitzköpfige und rachsüchtige Duellanten. Es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis der Platz zuerst von Baron Albert “Grant” umfassend neu angelegt wurde und sich dann in den Folgejahren zu einem Vergnügungsviertel mit Türkischen Bädern, Oyster Halls und Konzerthäusern wandelte, mittendrin der große Bau des Panoptikums “The Globe”.

Doch noch 1879 beschrieb Charles Dickens jr., der Sohn des berühmten Autors, den Platz in seinem “Dictionary of London” jedoch als “eine der himmelschreiendsten Belästigungen der Stadt … eine Müllhalde mit heruntergekommener Vegetation und räudigen Katzen und ebenso räudigen Straßenjungs”. Ein anderer Chronist beschrieb den Leicester Square als “ein Auffangbecken für tote Katzen und andere Abscheulichkeiten”.

Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, mit der Blütezeit des Kinos, erlangte der Platz im West End seinen Glamour und seine heute noch bestehende Bedeutung als Zentrum der britischen Filmindustrie. Alle wichtigen Kinopremieren finden heute hier im Empire (1330 Plätze), Odeon (1700 Plätze) oder Vue (2475 Sitze) statt. In das Pflaster rings um den Platz sind wie beim Walk of Fame in Hollywood die Handabdrucke zahlreicher Filmstars eingelassen.

W Hotel: Von “Wonderful” bis “Extreme Wow”

Im Februar dieses Jahres wurde dem sich neu erfindenden Leicester Square ein weiterer glitzernder Monolith zugefügt: Das W Hotel, dessen Außenmauern von einer zehn Stockwerke hohen, changierenden Milchglashülle überzogen sind, in denen sich die historischen Fassaden der umliegenden alten Gebäude vielfach widerspiegeln. Je nach Tageszeit und Anlass wie dem Chinesischen Neujahrsfest schimmert die Glashülle in den unterschiedlichsten Farben.

Fassade_W Hotel 6

Glatzköpfige Türsteher bewachen den in Schwarz gehaltenen Eingangsbereich. Auch im Foyer ist vom Hotelbetrieb selbst noch nicht viel zu merken. Nur eine Traube von glitzernden Discokugeln dient als Appetithappen für das Corporate Design des Hauses, das erst in den oberen Etagen komplett sichtbar wird. Fahrstühle befördern den Gast in die oberen Etagen mit ihren insgesamt 192 Zimmern der Kategorien Wonderful, Spectacular und Fabulous sowie den Suiten Fantastic, Marvellous, Wow und Extreme Wow.

Die Amsterdamer Interior Designer von “Concrete” haben ganz bewusst das Thema “Nightlife” in ihre Gestaltung aufgenommen. Hier sollen sich die Eleganz der Savile Row und das pulsierende Nachtleben Sohos miteinander verbinden. Kein Wunder, dass die schon von den Kinks besungenen “Dedicated follower of fashion” aus der nahegelegenen Regent oder Carnaby Street hier eine neue Heimat gefunden haben. Sie hängen gerne in der “W Lounge” oder der “Wyld Bar” ab oder genießen die exquisiten Speisen von Drei-Sterne Koch Jean-Georges Vongerichten im Restaurant “Spice Market”.

Um die Ecke, auf der Wardour Street, wo sich der Haupteingang des W Hotels befindet, beginnt auch das bunte Gewusel von Londons Chinatown. Die ist zwar nicht ganz so groß wie die Chinesenviertel New Yorks oder San Franciscos, bietet aber trotz der nie abreißenden Touristenströme immer noch eine gewisse Authentizität, vor allem, was das chinesische Essen angeht.

Dutzende von knusprig braunen, fettig glänzenden Peking-Enten und Postern mit den aktuellen Dim Sum-Angeboten in den Schaufenstern locken rund um die Gerrard Street und den Newport Place hungrige Gäste in die Lokale.

Eines der besseren ist das “Wong Kei”, ein auf den ersten Blick unüberschaubares Labyrinth an Stockwerken; Tischen und Treppen. Je nachdem, welche finanzielle Potenz und welches Benehmen der Kellner vom Gast erwartet, wird man ruppig oder freundlich an einem der runden Sechser-Tische plaziert. Betrunkene landen ganz oben in der vierten Etage. Vor allem die preiswerten Nudelsuppen in Schalen von der Größe einer Vogelbadewanne, die meist unter fünf Pfund kosten, sollte man sich nicht entgehen lassen, auch wenn dies die Laune des Kellners aufgrund der geringen Umsätze noch weiter verschlechtern wird – und man vielleicht keine zweite kostenlose Kanne mit Jasmintee serviert bekommt.

So gestärkt kann man gut ins Nachtleben Sohos abtauchen oder seinen Theater- und Musical-Marathon starten. Allein im West End hat der Musical-Fan aktuell die Auswahl zwischen rund 30 Stücken, von “Betty Blue Eyes”, “Billy Elliot” oder “Blood Brothers”, über Klassiker wie “Chicago”, “Mamma Mia!” oder “Les Miserables” und “Phantom of the Opera” bis hin zu “We Will Rock You oder “Yes, Prime Minister”. Doch vielleicht sieht man das beste Stück des Abends nicht in den Theatern, sondern doch auf den Straßen rund um den Leicester Square.

Erschienen in manager magazin online, 04.08.2011: http://www.manager-magazin.de/lifestyle/reise/a-776924.html

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