Fünf Jahre nach der Schließung des Drei-Sterne-Restaurants “Les Maisons de Bricourt” im nordbretonischen Cancale erforscht Olivier Roellinger immer noch die Magie der Gewürze. Er lässt es dabei nur viel ruhiger angehen. mmo-Autor Klaus Vogt hat ihn besucht.
Cancale – Es ist ruhig geworden im “Maison du Voyageur” in Cancale. Vor noch nicht einmal fünf Jahren pilgerten noch Scharen von Gourmets und europäischen Spitzenköchen in diesen kleinen verschlafenen Ort in der Nordbretagne, um einmal die legendäre bretonische Gewürz- und Fischküche des Drei-Sterne-Kochs Olivier Roellinger genießen zu können.
Das Restaurant “Les Maisons de Bricourt” war ein Wallfahrtsort, die Erwartungshaltung der Gäste ging ins Unendliche. Bis zu sechs Monate musste man auf einen Tisch warten. Man bereitete sich auf das lang erwartete Ereignis vor wie auf einen Gottesdienst – oder den besten Liebesakt aller Zeiten. Kein Wunder, dass die Stimmung bei den Gästen entsprechend angespannt war.
“Es war eine feierliche Stimmung wie in der Kirche – und dennoch erwarteten die Gäste DEN Orgasmus ihres Lebens.” Irgendwann sei ihm das zu anstrengend gewesen. Als Roellinger zudem noch ernsthaft erkrankte, schloss er das Restaurant im November 2008. Eine Schockwelle rollte durch die französische Spitzengastronomie. Viele erzählten sogar, dass Roellinger seine drei Michelin-Sterne unter Protest an die Gourmetkritiker zurück gegeben habe. “Nein”, erklärt Roellinger, “ich habe einfach nur das Restaurant geschlossen.”
Entspannt sitzt er in dem Salon, in dem er seinen Ruhm begründete. Das “Maison du Voyageur” ist sein Elternhaus, hier ist er zum ersten Mal mit den Korsaren-Legenden der Region in Berührung gekommen. Der legendäre Korsar Robert Surcouf soll einst sogar hier gelebt und einen sagenhaften Goldschatz im Haus versteckt haben.
In 22 Jahren auf die Spitze des Gastro-Olymps
22 Jahre hatte es gedauert, den Gastro-Olymp zu erklimmen. 1982 eröffnete Roellinger mit seiner Frau Jane ein “Table D’Hôte”, einen intimen, halb privaten Ess-Salon. Sechs Monate später hatte ihm der Gault-Millau schon 15 Punkte verliehen. Bereits im Jahr 1984, zwei Jahre nach seinem Start, gab es den ersten Michelin-Stern. Der zweite folgte vier Jahre später, nach zehn Jahren gab es 19,5 Punkte im Gault Millau, und schließlich im Jahr 2006 den dritten Michelin-Stern.
Dennoch zögerte Roellinger nicht lang, den unmenschlichen Druck zu beenden, der oft in der Spitzengastronomie herrscht. “Die Sterneküche ist ein sehr enges, geschlossenes System. Es diktiert deine Arbeitsweise. Ich wollte diesem System entfliehen und zurück zu mehr Einfachheit und Natürlichkeit.”
Dass sich das kulinarische Reich Roellingers vom kleinen Hafenstädtchen Cancale aus ausgebreitet hat, kommt nicht von ungefähr. Seit Jahrhunderten gilt die nordbretonische Küstenstadt als Heimat der besten Austern weit und breit. Die Stadt darf sogar den begehrten Titel “Site remarquable du goût” tragen.
Schon die französischen Könige ließen sich die begehrten Schalentiere zweimal wöchentlich nach Paris bringen. Der ungewöhnlich hohe Planktonreichtum der Bucht von Mont St. Michel gibt den Meeresfrüchten einen ganz unverwechselbaren Geschmack. Auf mehr als tausend Hektar werden sie in Zuchtfarmen direkt in der Bucht gezüchtet.
Küchengeschichten von abenteuerlustigen Seefahrern
Mehr als 50 Züchter leben noch davon, jeder einzelne muss mindestens 1,5 Hektar bewirtschaften, um sich Austernzüchter nennen zu dürfen. Dies nimmt der französische Staat, der die Lizenzen verwaltet, sehr genau. Wer will, kann sich an der Quaimauer im Hafen La Houle an den Austernständen mit ihren sonnengebleichten, blauweiß gestreiften Stoffdächern gleich ein Dutzend Austern auf einen Pappteller legen lassen, und sie mit einem Spritzer Zitrone garniert gleich am Strand genießen.
Im Angebot sind Flachaustern namens “Plates”, aber auch die “Creuses” genannten Felsenaustern, und die riesigen “Pieds de Cheval” (Pferdefüße), mutierte Austern, die aus den Zuchtkörben geflohen und in Freiheit zu beachtlicher Größe herangewachsen sind. Dass viele Touristen von diesem Feinschmeckerimbiss Gebrauch machen, davon zeugen die vielen leeren Schalen, die sich am Strand zu einem riesigen Haufen auftürmen – oben drauf die ausgequetschten Zitronenschalen.
Schon wieder einen Stern fürs neue Bistro
Seit der Schließung des “Maisons de Bricourt” betreibt Roellinger “nur noch” das Bistro “Le Coquillage” im pittoresken Chateau de Richeux im Nachbarort St. Méloir des Ondes. “Hier ist heute alles sehr viel lockerer und günstiger”, freut sich der Gewürzalchimist. Die Erwartungshaltung der Gäste sei nicht mehr so hoch. “Und dennoch haben wir schon wieder einen Michelin-Stern bekommen”, so Roellinger. “Verstehen tue ich das nicht …”
Gewürze sind der Dreh- und Angelpunkt in Roellingers Kochphilosophie. Mit seiner Ausbildung als Chemiker hätte er sich auch gut der molekularen Küche zuwenden können, die mit Texturen, Aromen und Temperaturen fast wissenschaftlich umgeht.
Doch der tiefsinnige Bretone hatte etwas anderes vor: Er sagt, er habe mit dem Kochen begonnen, um zu kommunizieren und Erinnerungen zu rekonstruieren, Erinnerungen an die Zeiten der bretonischen Korsaren, die schon früh exotische Gewürze aus aller Welt in die Region brachten.
Kombiniert mit dem Reichtum an Fischen und Meerestieren in der Bucht von Mont St. Michel und dem frischen Gemüse der ortansässigen Bauern, kreierte Roellinger eine sehr feine, sehr naturnahe Küche, die durch ihre Gewürzkompositionen jedes Produkt aufs feinste veredelt. “Wir wollten damit keine exotische Küche kreieren, sondern einfach nur die alten Abenteuergeschichten der Seefahrer neu erzählen”, erklärt Roellinger.
Die Ergebnisse von Roellingers Forscherdrang namens “Retour des Indes”, “Grand Caravane”, “Poudre de Bulgares” oder “Poudre de Neptune” kann man in Cancale, St. Malo und Paris in eigenen Gewürzläden namens “Les Entrepôts Epices Roellinger” käuflich erwerben. Und damit die Kochkunst Roellingers nicht in Vergessenheit gerät, betreibt er mit seinem ehemaligen Küchenchef Emmanuel Teissier eine Kochschule in der Altstadt von Cancale.
Gourmetmenüs auf dem Korsarenschiff
Einmal wöchentlich sticht Emmanuel zudem mit einer Handvoll Gourmets in See, um sie mit einem Gourmet-Menü à la Roellinger an Bord des Segelschiffs “An Durzunel” zu verwöhnen. Schwer bepackt klettert er aus dem Motorboot an Bord des alten Segelschiffs korsarischen Stils, das von Seemann Jerome Foyer sicher durch die heimtückischen Klippen und Riffe der Bucht von Mont St. Michel geführt wird.
Dreizehn Gänge stehen auf dem Programm, die Zutaten dafür hievt Emmanuel gerade an Bord. Die heiße Gemüsebrühe, mit der ein paar frische Austern übergossen werden, wartet in einer Thermoskanne auf ihren Ausschank, die meisten anderen Speisen werden, schon an Land vorbereitet und gut verpackt, an Bord kredenzt. Manche Gänge werden sogar frisch aus dem Meer gezogen und auf einem kleinen Grill zubereitet, vorausgesetzt, es findet sich ein Hummer oder eine Seespinne in den ausgehängten Reusen.
Vom Boot aus sichtbar liegt an der Hafenpromenade von La Houle das “Breizh Café“. Im japanischen Restaurant der Pension und Creperie führt der Roellinger-Schüler Raphael-Fumio Kudaka vor, was passiert, wenn man die bretonische Gewürzküche mit den Feinheiten der japanischen Küche verbindet.
Standards wie Maki oder Sashimi sucht man hier vergebens. Stattdessen gibt es Hummer mit Mango- und Ingwer-Vinaigrette oder Zarenaustern mit weißem Spargel. Kein Wunder, dass das kleine Haus auch schon mit zwei Kochmützen vom Gault-Millau ausgezeichnet wurde. Und auch Roellinger dürfte diese internationale Fusion zweier feiner Geschmackswelten gefallen. Er weiß schon lange: Hinter dem Horizont geht’s weiter.
Erschienen auf manager magazin online, 23.07.2013:
http://www.manager-magazin.de/lifestyle/genuss/ehemaliger-drei-sterne-koch-olivier-roellinger-a-910394.html